Ich bin nicht der Durchschnitt. Ich bin der Querschnitt!
Vor mir sitzt mein Kollege Daniel – seines Zeichens Vater, erfolgreicher Geschäftsmann, passionierter Freizeitsportler, Rehab Spezialist. Letzteres so gut, zuverlässig und überzeugend wie kein Zweiter, denn Daniel ist selbst Rollstuhlfahrer. Wir haben uns zum Interview für eine kleine Blog-Serie zum Thema Querschnitt verabredet.
Vor Interview-Beginn plaudern wir ganz entspannt über einschneidende Erlebnisse und herausfordernde Lebensabschnitte. Das geht, wenn sich Menschen unterhalten, die schon längere Gesundheitskrisen zu bewältigen hatten. Ich habe keinerlei Berührungsängste vor Behinderungen. Vielleicht, weil ich damit aufgewachsen bin, oder auch, weil ich seit einigen Jahren bei Invacare arbeite, einem Hersteller von Hilfsmitteln wie Rollstühlen, Rollatoren und vielen anderen Dingen, die einem das Leben mit körperlichen Einschränkungen auf vielfache Weise erleichtern.
Ich blicke auf den vor mir liegenden Fragenkatalog. Zwei Stunden haben wir uns vorgenommen. Bevor wir loslegen, einigen wir uns darauf, schonungslos offen und ehrlich miteinander zu sprechen. Und dann spüre ich ihn doch: den Klos im Hals. Letzte Zweifel, ob ich den richtigen Ton bei der Annäherung an das sensible Thema treffen werde, räumt Daniel schmunzelnd aus dem Weg. Oft genug ist er Zeuge eines mehr oder weniger geglückten Versuches der Political Correctness im Umgang mit Behinderungen. Der berühmte rosa Elefant denke ich noch und höre mich fragen:
Was ist passiert, warum sitzt Du im Rollstuhl?
Daniel: „Ich erinnere mich genau an diesen nebligen Sonntag-Nachmittag im November. Wir waren unterwegs mit Freunden, Kaffee trinken. Beim Aufstehen spürte ich ein Stechen im Rücken, zentral auf der Wirbelsäule. Keine Schmerzen, nur das Gefühl eines eingeklemmten Nervs. Auf dem Rückweg ist meine Frau Auto gefahren. Daheim haben wir noch gemeinsam gekocht. Ich stand in der Küche – irritiert von dieser sprichwörtlich beklemmenden Situation. Sämtliche Versuche mit Verrenkungen die Blockade zu lösen, scheiterten. Es hat nicht funktioniert. Ich bin hoch ins Schlafzimmer, vielleicht klappt es mit ein bisschen Bettruhe. Doch dieses lähmende Körpergefühl wurde immer stärker. Ich wurde unruhig, rastlos und wollte nochmals in die Küche nach unten. Auf der Treppe wurden meine Beine taub. Dann, plötzlich eine unglaubliche innerliche Hitze auf Läsionshöhe (Höhe der Verletzung des Rückenmarks). Ich dachte, ich verbrenne. Meine Frau rief den Notarzt, der die Symptome richtig einschätzte. Der Verdacht auf ein Aneurysma sollte sich bald bestätigen. Durch die geplatzte Ader im Wirbelkanal trat Blut aus, das den Druck im Wirbelkanal stark erhöhte und die Nerven regelrecht abquetschte.“
Nur eine Frage der Zeit
Wie kann so etwas passieren? Ich denke bei der Diagnose Querschnitt in erster Linie an schwere, unfallbedingte Verletzungen – also durch Einwirkungen von außen.
Daniel: „Ein Querschnitt kann viele Ursachen haben. In meinem Fall stellte sich heraus, dass es sich um eine geburtsbedingte Gefäßmissbildung handelte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese eine schwache Ader platzte.“
Warst Du die ganze Zeit bei Bewusstsein und war Dir klar, dass hier jede Minute zählt?
Daniel: „Ja, ich habe alles ganz klar erlebt: Die Angst meiner Familie, die verzweifelte Suche nach einer Klinik, die diese Not-Operation durchführen kann.“
Wird in solchen Fällen nicht ein Rettungshubschrauber für den Transport in eine Spezialklinik angefordert?
Daniel: „Der dichte Nebel ließ die Überführung in ein Querschnitt-Zentrum an diesem Tag nicht zu. Leider waren an diesem Wochenende die Kapazitäten der meisten Münchner Krankenhäuser auch am Limit. Erst beim dritten Versuch erhielt der Notarzt das „ok“ einer Klinik, in der ich sechs Stunden später operiert wurde.“
Die Zeit nach der OP
Wie ging’s dir nach der OP?
Daniel: „Ich wachte früh morgens im Krankenzimmer auf. Mein Körper fühlte sich durch die hohe Kortison-Dosis heiß und aufgepumpt an. Trotzdem spürte ich eine große Erleichterung: Ich war am Leben und lag lässig mit gekreuzten Beinen im Bett – dachte ich jedenfalls. Vorsichtig blickte ich unter die Decke: Meine Beine lagen regungslos nebeneinander! Etwas später kam die Krankenschwester und drehte mich auf die rechte Körperseite. Sie sagte nichts, während sie hinter meinem Rücken beschäftigte war und ich verwundert aus dem Fenster schaute. Erst später begriff ich, dass sie meinen Darm entleert hatte.“
Ich muss einen Schluck Wasser trinken und nutze den Moment mich zu sammeln. „Ja, das ist die Wahrheit. Ist nicht schön, ist aber so.“ Ob das alles nicht ein Riesenschock gewesen sei, frage ich vorsichtig. „Ja und nein“, erzählt Daniel: „Anfangs dachte ich noch, das wird schon wieder. Rückblickend weiß ich, dass da eine Art Selbstschutz-Programm ablief. So einen Schicksalsschlag kannst du nur in kleinen Häppchen verdauen.
Nach vier Tagen Intensivstation trat Daniel seine Reha in einer Unfallklinik an. Dort lernte er mit dem Querschnitt und seinen Folgen umzugehen. Wie er seine Erfahrungen heute für sich und andere im Umgang mit Paraplegie und Tetraplegie einsetzt, erzählen wir euch in Teil 2 und 3 von unserem Interview mit Daniel.
Fortsetzung folgt…
Autor: Claudia Poguntke